Ly My Cuong / Barbara Ming:

Zeit der Heuschrecken – Die Geschichte eines Boatpeople-Kindes

Taschenbuch,

90 Seiten

8,80 Euro

 

ISBN 978-3-937507-24-8

Leseprobe

 

Aller guten Dinge sind drei, sagt man in Deutschland, wenn et­was beim ersten oder auch beim zweiten Mal nicht gelingen will.

Ich hatte aufgehört zu zählen, als wir Mitte des Jahres 1978 an einem Vormittag erneut mit 1189 ablegten, uns erneut mit Papa

und diesmal auch mit Opa in den Armen gelegen hatten, erneut die winkenden Menschen kleiner werden sahen. Außerdem waren

die Dinge nicht gut gewesen.

Diesmal hatte die Hafenpolizei für das Schiff ein Verbot verhängt. Nochmals technische oder andere Probleme, nochmals einen

Abbruch der Fahrt, und das Schiff würde nicht mehr für weitere Reisen genehmigt werden. Menschenmassen quetschten sich eng

aneinander, der Platz war noch knapper geworden. Als es Nacht wurde, erzählte in unserer Nähe ein Passagier einem anderen

Passagier Gruselgeschichten. Geister gäbe es hier draußen auf See.

Wir hörten, wie die See um unser Schiff rauschte, vor den Fenstern war schwarze Nacht. Das Meer ist nicht zu vergleichen mit

einer Autobahn, auf der ständig kleine Lichter zu sehen sind. Im Dunkeln ist es besonders schlimm, weil man nicht sieht,

was auf einen zukommt.

Umso lebendiger ging es bei Tag zu. Das Wetter war klar, die kühle Luft roch nach Meer.

Inzwischen waren wir von dem beengten Sitzen so verkrampft, dass wir kaum auf den Füßen stehen konnten. Meine Mutter sagte uns,

wir sollten unsere Beine in Bewegung bringen, damit sie nicht einschlafen. Abwechselnd standen wir auf oder stemmten die Füße

fest gegen den Boden. Erst meine kleine Schwester, dann meine große Schwester, dann mein Bruder und dann ich. 

 

Gegen Nachmittag hatte das Meer sich verändert. Es regnete stark und ein Sturm kam auf. Das Schiff schaukelte, mir wurde übel.

Wieder war eine Nacht vergangen. Drei Tage und zwei Nächte nun schon.

Draußen hatte es aufgeklart. Der Himmel war wieder blau – aber unser Schiff fuhr nicht mehr. 

»Können Sie uns sagen, was los ist?«

»Ein technisches Problem. Es gibt wohl wieder technische Pro­ble­me!«

Ich schaute aus dem Fenster. Einige der Männer waren oben vom Oberdeck aus ins Wasser gesprungen und lachten und

amüsierten sich,

um sich ein wenig zu entspannen. Beneidenswert! Wir Kin­der durften nicht schwimmen.

Dann wurden sie zurückgerufen, die Fahrt ging weiter.

Ein Hampelmann oder ein Clown macht solche Bewegungen wie ich!

Rechtes Bein hoch, schütteln, runter. Linkes Bein hoch, schütteln, runter.

Meine Schwester beschäftigte sich währenddessen mit ihrer Fa­n­ta­sie. Sie zählte unentwegt Dinge auf, die sie gerne essen würde.

»Und was würdest du gern essen, Chiet-Chiet?«

Da waren wir uns sehr schnell einig. Ganz gleich, wie lange wir noch zu fahren haben, wenn wir ankommen, wollen wir zuallererst

und sofort Nudelsuppe mit Hühnerfleisch haben! Ja, das wollen wir.

Manchmal habe ich dieses Boot gehasst! Ich war die vielen Menschen leid und wäre am liebsten von Bord gesprungen.

»Wie lange dauert es denn nun noch, bis wir endlich an Land kommen?«

»Bald, bald«, erwiderte meine Tante.

 

Beim Blick aus dem Fenster sahen wir ein kleines Schiff, das sich schnell näherte. 1189 war stehen geblieben. Als es auf unserer

Höhe angekommen war, ahnten alle schon, dass das Piraten sind. Mit langen Messern in den Händen stürmten sie unser Schiff

und forderten die Menschen auf, ihnen das Geld zu ge­ben, was sie noch hatten. Es waren grobe und unfreundliche Män­ner,

die nur Beute machen wollten. »Her mit euren Wert­sachen! Und wenn ihr nichts rausrückt, schmeißen wir euch ins Meer!

Die Haie werden sich bestimmt freuen!«

In diesem Moment entdeckte einer der Piraten zwei hübsche Ge­schwis­ter, junge Mädchen, die zu einer anderen Familie gehörten.

Eines der Mädchen gefiel ihm wohl besonders, denn er zwang es, mit ihm zu gehen. Niemand wagte, sich einzumischen.

»Das sind Piraten! Seht mal, die langen Messer in ihren Hän­den.« Das Mäd­chen weinte und folgte ihm.

Ich fand das alles sehr merkwürdig und schaute meine Mutter an.

Sie hatte sich die Haare durcheinander und das Gesicht dreck­ig ge­macht, damit die Piraten sie nicht auch noch greifen.

Häss­li­che Frauen nahmen sie nämlich nicht. 

Wie sie gekommen waren, so verschwanden sie auch wieder. 

Was mit dem jungen Mädchen geschehen würde? Keiner wusste es. Darüber wurde unter den Leuten heftig diskutiert.

Manche sag­ten, dass sie höchstwahrscheinlich nun als Sklavin für die Pi­ra­ten leben müsse.

 

Das Leben auf einem Schiff hat einen ganz eigenen Rhythmus. Die Uhr spielt eigentlich keine Rolle, die Zeit wird nur

bestimmt von Tag und Nacht und von der Warterei, endlich Land in der Ferne auszumachen.

Wir fuhren und fuhren.

Einmal schien die Sonne, dann wurde es wieder bedeckt und windig, dann schien die Sonne erneut, dann schüttelte man

die Beine aus. Und dankbar war man für das Zitronenwasser, das die Tante hergestellt hatte, um den riesigen Durst ein

wenig zu löschen. Die vielen Menschen waren auch ruhiger geworden. Sie saßen oder lagen auf dem harten Deck herum

und träumten von einer warmen Mahlzeit oder einem Bett.

Ich fand, dass das genug Abenteuer gewesen war. Ich hatte ja nun den Geschmack des Abenteuers kennen gelernt.

Der einsame Oze­an machte mir Angst, und auf der anderen Seite war da die Lan­geweile.

 

Da! Am Nachmittag des Tages, den wir mittlerweile nicht mehr gezählt hatten, tauchten wieder Seeräuber auf!

Diesmal waren es höfliche Seeräuber, die keine Waffen bei sich trugen. Sie enterten unser Schiff und fragten alle Passagiere,

ob sie vielleicht Medi­ka­men­te kaufen möchten.

Und tatsächlich, alle taten so, als ob sie unbedingt Medikamente bräuchten und zahlten das verlangte Geld.

Als die Seeräuber hatten, was sie wollten, verließen sie das Schiff ganz schnell.

 

»Was meint ihr, ob diese Affen mit den versprochenen Medikamenten wiederkommen?« fragten sich die Passagiere.

Aber da­ran, dass sie alle so ärgerlich und wütend durcheinander sprach­en, war die Antwort schon klar herauszuhören.

Das Mädchen Chiet-Chiet erlebte als 6-Jährige die Flucht über das Südchinesische Meer.